Können Götter Fahrradfahren?

Es ist ein regnerischer Tag und kalt obendrein. Kein Tag, an dem man erwartet, jemandem in Badehose zu begegnen, mit einem Handtuch über der Schulter. Trotz meiner zurückhaltenden Art kann ich nicht umhin, die Person zu fragen, ob sie nicht frieren würde?

Betont bescheiden schreite ich an sie heran. In dem Moment, wo ich nur noch 1 ½ Meter von ihr entfernt bin, dreht sie sich um. Ein braunes und ein grünes Auge schauen mich an.

„Möchten Sie auch schwimmen gehen? Wir können gerne auch zusammen schwimmen! Das wäre mir sogar lieber, denn ich habe es noch nie getan!“

„Sie waren noch nie Schwimmen? Können Sie überhaupt Schwimmen?“

„Nein, aber ich habe dem oft zugeschaut und ich glaube nicht, dass es kompliziert ist!“

„Also, es ist zwar nicht kompliziert, aber wenn sie nicht Schwimmen können, dürfen Sie auf keinen Fall in den See, Sie könnten ertrinken!“

„Ertrinken? Was bedeutet Ertrinken?“

Ich spürte sofort die Herausforderung, die das Leben da gerade an mich stellt. Ich habe kein Telefon dabei und kann niemanden anrufen, der mir hilft. Denn wenn dieser große, stattliche Mann um die 30 ertrinken würde, könnte ich schmales Hemd ihn nicht retten.

„Ertrinken bedeutet, dass sie untergehen und Wasser in ihre Lungen atmen und das würde Sie sehr wahrscheinlich umbringen. Ich sage Ihnen gleich, dass ich Sie nicht werde retten können, weil sie zu groß und zu schwer sind!“

Ich bemühe mich, angsteinflößend zu klingen, damit dieser arme, verirrte Mensch sich endlich warme Kleidung anzieht und aufhört, bei Frost in einem 20 Meter tiefen See schwimmen gehen zu wollen.

„Ach wissen Sie, atmen muss ich gar nicht. Ich mache das nur, weil alle es tun und ich vermute, dass es unhöflich ist, wenn man es nicht tut?

„Nein, Sie atmen, weil sie sonst ersticken würden. Kein Sauerstoff, Exitus, mausetot, alles klar?“

Ich werde wütend, dieser Typ nervt mich langsam. Was hat er genommen, dass er bereit ist, sich bei -1° das Leben zu nehmen? Dann erblickt er mein Fahrrad und zeigt mit dem Finger drauf.

„Ist das nicht ein Fahrrad? Kann ich mal drauf fahren?

„Sie würden nicht weit kommen. Bei -1° und in Badehose wird Sie an der nächsten Kreuzung die Polizei aufhalten und den Ärger, den Sie dann bekommen, würde ich Ihnen gerne ersparen. Außerdem ist der Sattel viel zu niedrig für Sie.“

Er schweigt und schaute mich fragend an.

„Warum hält die Polizei Menschen mit Badehose an? Ist Badehosetragen auf dem Fahrrad verboten?“

„Nein, natürlich nicht, aber bei unter Null Grad würden die Polizisten vermuten, dass Sie in Kürze wegen Unterkühlung kollabieren und dann ist es ihre Pflicht, Sie vor sich selbst zu schützen. Wieso frieren Sie überhaupt nicht?“

„Oh, ehrlich gesagt ist mir heiß und am liebsten würde ich auch die Badehose ausziehen!“

Ich beschließe den armen Kerl machen zu lassen, was er für richtig hält. Ich muss auf Toilette und trotz dickem Mantel fange ich langsam an zu frieren.

„Ich beneide Sie“, sagte er.

„Sie beneiden mich? Um was beneiden Sie mich?“

„Um alles. Dass Sie Fahrradfahren können, bei -1 Grad Hitze frieren. Dass Sie pinkeln müssen…“

„Moment. Woher wissen Sie, dass ich pinkeln muss?“

„Ich fühle es.“

„Sie fühlen, dass ich pinkeln muss!?“

„Ich fühle, wie Sie pinkeln müssen. Ich fühle, wie Sie denken, dass der Typ doch irre ist und dass Sie überlegen, was Sie heute Abend essen werden. Dass es Huhn geben wird, obwohl Sie ihrer neuen Freundin erzählt haben, dass Sie Veganer sind, nur um sie ins Bett zu kriegen. Ich fühle, dass Sie bedauern, im letzten Sommer nicht ein einziges Mal in diesem herrlichen See Schwimmen gewesen zu sein und dass Sie überhaupt schon so lange nicht mehr Schwimmen waren, dass Sie sich fragen, ob Sie es noch können? Und viele andere Dinge“.

Ich schweige. Lange. Wie kann dieser mir völlig fremde Mensch, der bei winterlichen Temperaturen baden gehen will und sich, nur mit einer Badehose bekleidet, mit mir eine halbe Stunde lang unterhalten kann, ohne zu frieren, während ich trotz Mantel und Schal bereits Frostbeulen verspüre, wissen, was in mir vorgeht?

„Was sind Sie, ein Außerirdischer? Oder Wim Hoff in Verkleidung eines entflohenen Irren?“

„Ich bin ein Gott und habe eine Wette verloren.“

„Ein Gott der eine Wette verloren hat!“, platzt es lachend aus mir heraus.

Ich wusste jetzt definitiv, dass ich an einen Irren gelangt bin und hier schnell verschwinden sollte.

„Ich kann verstehen, wenn Sie jetzt gehen wollen und an Ihrer Stelle wäre ich längst gegangen. Aber Sie sollen wenigstens wissen, dass ich IHRETWEGEN die Wette verloren habe.“

„Wieso meinetwegen?“ frage ich überrascht. „Was hatten Sie gewettet und MIT WEM?“

„Meine Schwester Isis und ich hatten gewettet, dass, wenn ich mich bei eisigen Temperaturen in einen Badesee stürzen würde, es niemanden interessieren würde, ja dass die Menschen es noch nicht mal merken würden, weil sie so gleichgültig sind. Sie hat dagegen gewettet.“

„Wäre ich nicht zufällig hier vorbei gekommen, hätte ich es auch nicht bemerkt.“

„Sie sind nicht zufällig hier vorbei gekommen.“

„Ich bin hier natürlich nur zufällig vorbei gekommen. Eigentlich müsste ich längst zuhause sein, weil normalerweise mein Sohn um diese Uhrzeit aus der Schule kommt und Hunger hat. Wenn ich nicht was Richtiges koche, dann isst er nur Chips und trinkt Coca Cola. Aber er ist auf Klassenfahrt. Warum denken Sie, dass ich nicht zufällig hier bin?“

„Weil meine Schwester Isis Sie geschickt hat. Sie hat auch den Termin der Klassenfahrt von Ende September auf Ende November verschieben lassen.“

„Der Termin wurde verschoben, weil sich die Klassenlehrerin den Knöchel gebrochen hat … Ok, Moment.“

Es war nämlich so. Die Klassenlehrerin ist auch zugleich die Sportlehrerin und somit eigentlich sehr geschickt im Umgang mit ihren eigenen Knochen. Blöderweise trug es sich zu, dass ihr einen Monat vor der ursprünglichen Klassenfahrt beim Mountain-Biken ein Fuchs vor das Rad gelaufen ist und beim Bremsen das Bremsseil gerissen ist. So fiel sie beim Ausweichmanöver über einen Busch, wobei sie mit dem linken Fuß in einer Astgabel hängen geblieben war.

Als wir von dem Vorfall und wie er sich im Detail zugetragen hatte, gehört hatten, dachten wir alle, dass es so viele Zufälle doch gar nicht geben kann und dass es vermutlich Gottes Wille war, dass die Klassenfahrt entweder später stattfindet, oder aber ohne sie. Wir tauften die Lehrerin heimlich Pechmarie, weil ihr Vorname Marie ist. Da die Schüler sie aber sehr mögen, wurde der Termin der Fahrt verschoben, anstatt sie durch eine andere Lehrkraft zu ersetzen.

„Ich war dagegen, das sage ich Ihnen gleich! Götter sollten Menschen schützen und ihnen keine Schmerzen zufügen, schließlich sind sie Unseresgleichen!“

Er riss die Augen auf und hielt sich die Hände vor den Mund, so als hätte er ein Geheimnis ausgeplaudert.

„Sie sind was?“

„Äh, also was? Hab ich was gesagt? Ich kann mich nicht mehr erinnern“

„Sie sagten, dass Menschen ihresgleichen sind. Also entweder Irre, oder Götter.“

„Irre! Auf keinen Fall Götter!“

Mir schwante, dass ich gerade eine ganz besondere Erfahrung mache und da niemand mich beobachtet, der das an meine Freunde oder Nachbarn weitererzählen könnte, beschloss ich, einen Test zu machen. Einen Göttertest!

„Natürlich nicht.“ sagte ich, „Götter können nämlich nicht Fahrradfahren, weil sie keine Beine haben und ich habe Beine! Und Götter können auch nicht mit dem Finger schnippen, oder Blockflöte spielen, weil sie keine Finger haben. Auch Mensch-Ärgere-Dich-Nicht können sie nicht spielen, weil sie keine Menschen sind, ich aber spiele mit meinem Sohn regelmäßig Mensch-Ärgere-Dich-Nicht! Sie können so Vieles nicht. Mit der Zunge schnalzen, weil sie keine Zunge haben, oder an den Nägeln kauen. Vielleicht Sackhüpfen, aber darüber ist sich die Theologie noch uneinig.“

„Nein, ich kann all das nicht, aber Sie können es! Also bin ich der Gott und Sie der Mensch. Wird es nicht Zeit zu gehen? Sie frieren doch? Ich komme alleine klar!“

„Sie haben Recht, ich sollte gehen. Und zum schwimmen gehen ist es jetzt auch zu dunkel, sie würden ja nicht wieder zurück zum Ufer finden! Aber bevor ich gehe, habe ich eine kleine Bitte.“

„Nur zu, ich erfülle Ihnen gerne eine kleine Bitte, sofern sie in meiner Macht steht!“

„Beweisen Sie mir, dass Sie NICHT Fahrradfahren können. Nur so weiß ich, dass Sie auch wirklich ein Gott sind und das würde mich ruhig schlafen lassen. Ich würde mich sonst ständig sorgen, dass Sie womöglich im See ertrunken sind, während ich sicher auf dem Rad nach Hause gefahren bin.“

„Kein Problem, nichts leichter als das!“

Ich reiche ihm das Fahrrad. Er setzt sich mit seinen langen Beinen auf den Sattel, greift mit beiden Händen den Lenker und tritt in die Pedale. Kaum setzt sich das Rad in Gang, kippt er um und landet im Dreck.

„Das war der zu niedrige Sattel, das gilt nicht. Warten Sie ich schraube ihn höher!“

Ein gewissenhafter Radfahrer hat immer einen Knochen dabei, also einen Schlüssel für alle Größen. Ich drehe den Sattel um 15 cm höher und lasse ihn ein zweites Mal antreten. Diesmal läuft es besser. Er setzt sich auf den jetzt passenden Sattel, greift mit seinen großen Händen den Lenker und fährt einige Meter.

Dann kommt eine Treppe. Aber anstatt zu bremsen und umzukehren, macht er einfach nichts! Er fährt ungebremst die Treppe hinab, stürzt auf halber Strecke und schlägt sich das rechte Bein auf. Ich renne sofort hin und kann sehen, wie sich an seinem Bein eine dunkel blutende Wunde gebildet hat.

„Herrje, Sie sind verletzt!“, rufe ich erschrocken.

Er kann so wenig Radfahren, wie er vermutlich Schwimmen kann, aber ich wollte es ja mal wieder ganz genau wissen. Nur, um dem Leben einen kleinen Triumph abzugaunern, ließ ich diesen Tollpatsch auf ein Fahrrad steigen.

„Alles gut, ich bin nicht einmal verletzt!“ sagt er mit einem Lächeln. Er steht auf und rät mir, nächstes Mal auch den Lenker höher zu stellen.

„Aber ihr Bein….“

Ich schaue auf sein vermeintlich aufgeschlagenes Bein und sehe nichts. Keine Wunde, kein Blut, nichts. Es ist also wahr, ich habe einen Gott vor mir, einen echten Gott! Er ist riesig, friert nicht, ist im Winter nur mit einer Badehose bekleidet und kann nicht Radfahren.

„Sage mir Gott … wie ist dein Name?“

„Osiris“

„Sage mir Osiris, was könnt ihr Götter eigentlich? Was ist eure Spezialität?“

„Oh, wir können sehr viel! Zum Beispiel die 14. Wurzel aus 367 bestimmen. Oder auf den Kilometer genau den Durchmesser einer Galaxie bestimmen. Rückwärtsschach spielen. Sonnen erlöschen lassen, Planeten in Eiswüsten verwandeln…“

„Lauter unnütze Dinge.“

„Was?“

„Lauter unnütze Dinge! Wen interessiert die 14. Wurzel aus 367 und wer in Gottes Namen spielt Schach rückwärts?“

„Nun, es gibt Planeten, auf denen die 14. Wurzel aus 367 als Zusatzfrage in der Abschlussklausur abgefragt wird und Gott selbst spielt alles rückwärts, nicht nur Schach.“

„Und, kann er Radfahren?“

Er schweigt und schaut mich mit aufgerissenen Augen an. Ich vermute, die Antwort wäre Nein. Nur, Gott ist Gott, der muss kein Fahrrad fahren können, aber Osiris sollte es schon können. Denn immerhin wurden für ihn Tempel und gigantische Statuen gebaut! Wenn die Menschheit wüsste, dass dieser Osiris weder Schwimmen noch Radfahren konnte! Oder nicht Mensch-Ärgere-Dich-Nicht spielen … die Ägyptische Geschichte müsste umgeschrieben werden.

Ich hebe mein Rad auf, trage es die Treppen hinauf und will mich verabschieden, aber Osiris ist weg, kein Gott weit und breit zu sehen. Ich bin allein, bei -1° Kälte. Durchgefroren und hungrig beschließe ich nach Hause zu fahren. Ich war mal wieder einem Tagtraum verfallen. Das käme vom Stress, hat mir mein Psychiater gesagt. Ich schwinge mich aufs Rad, und steige sofort wieder ab. Der Sattel ist zu hoch. Um ein Haar wäre ich gestürzt!

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